Koalitionswechsel in Hessen. Endlich wieder ein guter Redner bei der Opposition?

Ich hatte bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober ja keine großen Veränderungen erwartet und mehr oder weniger auch Recht bekommen. Das Ergebnis war so, dass CDU und Grüne weiter zusammen regieren konnten. Aber ich hatte vergessen, dass es mit Boris Rhein (CDU) einen neuen Ministerpräsidenten gibt und der erklärte nach der Wahl, mit Grünen und SPD zu sprechen.

Nun will die CDU nach Verhandlungen mit SPD und Grünen nun mit der SPD koalieren. Was jetzt natürlich noch genauer besprochen werden muss. (Ja, ich finde dieses Wort „Sondierungen“ nicht für korrekt. Natürlich sind diese ersten Gespräche auch schon Koalitionsverhandlungen, die Parteien wollen sie nur nicht so nennen.)

Echo online: Boris Rhein will in Hessen mit der SPD regieren

Ich muss zugeben, ich bin überrascht. Denn – wie schon oft von mir gesagt – die Grünen waren ja kein schwieriger Partner für die CDU. Die waren in meiner Wahrnehmung so unsichtbar in der Koalition, dass das auch eine CDU-Alleinregierung hätte sein können. Aus meiner Sicht gibt es nur ein Grünen-Projekt aus dieser Zeit und das ist der Radschnellweg Frankfurt-Darmstadt (Baubeginn 2018, rund 8 von 30 Kilometern sind fertig).

Aber ansonsten waren die Grünen der CDU in Hessen doch sehr entgegenegekommen: Sie hatte sich bei der Einrichtung eines NSU-Untersuchungsausschusses enthalten> und waren mit der Union für eine lange Verschlusszeit der NSU-Akten, agierten unglücklich beim Ausbau der Autobahn 49 mit den Abholzungen im Dannenröder Forst, eierten herum bei der Ableitung von Abwässern aus der Kali-Produktion, können den Flughafenausbau nicht verhindern und weihen zusammen mit dem damaligen CSU-Bundesverkehrsminister eine Umgehungsstraße ein.

Lange ging dieser Kuschelkurs ja gut, sogar so gut, dass die Grünen nach den ersten fünf Jahren mit der CDU bei der Landtagswahl 2018 Prozente dazugewannen (2018: 19,8%, +8,7%). Und sogar erstmals – und gleich fünf – Direktmandate gewannen, unter anderem hier in Darmstadt. (Und das ohne, dass Fluglärm ein Wahlkampfthema war – fand ich nämlich all die Jahre vorher interessant: DIe Grünen waren als einzige Partei gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens, aber in den Wahlkreisen um den Flughafen herum holten CDU und SPD die Direktmandante.)

So dass sie – meine Vermutung – glaubten, dass sie einfach so weitermachen und dadurch bei der Wahl 2023 quasi im Schlafwagen in die Wiesbadener Staatskanzlei fahren können. Ok, es kam anders.

So gesehen fühlt es sich natürlich ziemlich unfair an, nach dieser Nibelungetreue bis zur Selbstaufgabe, von der CDU ausgebootet zu werden. Und ich bin mir nicht sicher, ob es für Boris Rhein mit der SPD so einfach wie mit den Grünen geht – gerade weil die Genossen doch auch das beobachtet haben, was mir ebenfalls aufgefallen ist.

Ein Gutes könnte die Sache haben: Wenn Tarek Al-Wazir (Grüne) nach seiner Zeit als hessischer Wirtschaftsminister im Landtag bleibt, haben wir endlich wieder einen guten scharfzüngigen Oppositionsredner.

Nachtrag, 14.11.2023: Es gibt ein Interview mit Tarek Al-Wazir in der Frankfurter Rundschau. Kurzfassung: ‚Ich bin viel schöner und klüger als die blöde Nancy, aber der Boris steht ja auf billig. Ich habe den ja eigentlich nie gemocht.‘

Wer für einen NSU-Untersuchungsausschuss ist, schadet seiner Fraktion?

In Hamburg haben SPD und Grüne einen Antrag zu einem NSU-Untersuchungsausschuss abgelehnt. In dem Bundesland war 2001 Süleyman Taşköprü vom NSU ermordet worden. Aber es gab nie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Die Grünen-Bürgerschaftsabgeordnete Miriam Block hat nun diese Woche für den Untersuchungsausschuss gestimmt und nun scheint es so zu sein, dass sie von ihrer Fraktion dafür „bestraft“ werden soll.

taz: Abgestraft für Integrität

Vorab: Viele Grüne, die das jetzt lesen, werden wenig darauf geben, da sie davon ausgehen, dass das Krokodilstränen von einem sind, der sie eh nicht wählt. Naja, Selbstgerechtigkeit ist die am einfachsten zu schaffende Gerechtigkeit.

Jetzt inhaltlich: „Ein Sprecher der Grünen sagte, Block habe mit ihrem Verhalten rund um die Abstimmung erheblichen Schaden für die Fraktion in Kauf genommen.“ Wenn das die Hamburger Grünen wirklich glauben, haben sie ein Problem.

Jede Partei sollte laufend prüfen, ob ihre aktuelle Position auch ihre Position wäre, wenn sie in der Opposition bzw. in Regierung sitzt. Das sollte eigentlich immer gleich sein. Wenn nicht wird es irgendwann beliebig. Und das merken die Wählerinnen und Wähler.

Und jetzt der Fun Fact: Frau Block ist voll auf Parteilinie. 2021 beschloss eine Landesmitgliederversammlung – weil es in Hamburg bislang keinen NSU-Untersuchungsausschuss gab – folgendes (PDF):

Die Fragen liegen auf dem Tisch – die Antworten in nicht öffentlichen, hoffentlich noch nicht geschredderten Akten sowie bei Zeug*innen. Es gibt ein politisches Instrument, das Zeugenvorladungen, Zeugenaussagen und Einsicht in nicht öffentliche Akten ermöglicht: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Dies haben wir bereits 2015 und 2020 versucht und konnten unseren Koalitionspartner leider nicht für dieses wichtige Anliegen gewinnen. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, bei der parlamentarischen Arbeit und Aufklärung weiterhin dafür zu kämpfen (…)

Und jetzt wird mit Nachdruck die Bestrafung eines Fraktionsmitglieds verfolgt, das in einer basisdemokratischen Partei für einen Mitgliederbeschluss eintritt?

Nachtrag: Was durch die Aktionen der Grünen-Fraktionsführung natürlich untergeht ist die Frage, warum die Hamburger SPD partout keinen Untersuchungsausschuss will. Mal gucken: Der NSU-Mord in Hamburg war am 27. Juni 2001. Innensenator war damals Olaf Scholz (SPD). Weil sein Parteifreund Hartmuth Wrocklage am 28. Mai 2001 zurückgetreten war. Olaf Scholz blieb aber nur bis zum 31. Oktober 2001 im Amt, da dann eine Koalition aus CDU und Schill-Partei in Hamburg die Regierung übernahm.

Und schon gerät man in den Ruf einen Verschwörungsmythos zu basteln.

Nachtrag 29.4.2023: Spiegeljournalisten sind der Sache nachgegangen und bestätigen das, was ich vermutet habe. Die Hamburger SPD will keinen Untersuchungsausschuss.

(€) Spiegel: Eine Regierung am seidenen Faden – „Hätten mehrere Grünenabgeordnete mit dem Linken-Antrag gestimmt, hätten die Sozialdemokraten sicherlich den Stecker gezogen“, heißt es aus grünen Senatskreisen. Die Sozialdemokraten in Hamburg sind in der komfortablen Lage, sofort mit der CDU regieren zu können. Die Union ist im Stadtstaat drittstärkste Kraft.

Das spricht nicht gerade für die Hamburger SPD, die ja schon Schwierigkeiten wegen der Warburg-Bank hat.

Aber, die SPD sollte gewaltig aufpassen, denn mit solchen Nummern wie in Hamburg könnte das passieren, was hier in Darmstadt passiert ist: Hier fühlten sich die Grünen von der SPD wegen einer Umgehungsstraße erpresst. Und nach der nächsten Kommunalwahl koalierten sie lieber mit der CDU als Juniorpartner (die wiederrum so dankbar ist fürs Mitregieren, dass sie kaum auffällt).

HR fragt nach schwarz-grünem Kuschelkurs

Also echt, liebe Kollegen vom HR, aber beim Thema „schwarz-grüner Kuschelkurs“ kann man sich besser vorbereiten und ein bisschen mehr nachhaken.

hessenschau.de: Interview zur Strategie-Debatte Grünen-Spitze findet sich nicht zu kuschelig

Es gibt ja nicht nur das Flüchtlingsthema. Was ist mit dem Grünen-Kurs beim Terminal 3? 2013 hieß es noch: „…und keinen Bau des Terminals 3“. Und was ist mit dem Kuschelkurs beim NSU-Komplex? Weder CDU noch Grüne haben im Landtag für den Ausschuss gestimmt. Aber die Vorfälle stammen schließlich aus der Zeit der CDU-Alleinregierung. Und 2006 klangen die Grünen da noch ganz anders.

taz: Schwarz-grüne Nebelkerzen Ein Untersuchungsausschuss in Wiesbaden soll den NSU-Skandal aufklären. Aber dafür interessieren sich die dortigen Koalitionspartner nur bedingt.