Förderverein Liberale Synagoge startet ins Erinnerungsarbeitsjahr 2016

(PM FLS) Der Förderverein Liberale Synagoge (FLS) hat 2016 zwei zentrale Projekte: Das 140 Jahre Liberale Synagoge-Jubiläum und das Karl Heß-Projekt. Karl Heß war Vorsitzender des SV 98, musste aber vor den Nazis nach Frankreich und später nach Brasilien fliehen.

Der FLS wird das ganze Jahr über mit Veranstaltungen an den runden Geburtstag der Liberalen Synagoge erinnern – das Jüdische Gotteshaus feiert 2016 seinen 140. Geburtstag.
Die Liberale Synagoge, ein eindrucksvoll-prachtvoller Sakral- und Monumentalbau von 24 Metern Höhe, der die Dächer Darmstadts überragte, war am 23. Februar 1876, vor genau 140 Jahren, im Beisein der versammelten Stadt und großherzoglichen Landesprominenz eröffnet worden. Erbaut wurde sie durch den Stadtbaumeister Eduard Köhler, vor allem von dessen Assistenten Stephan Braden. „Diese Liberale Synagoge war, wie es damals hieß, eine ‚Zierde unserer Stadt‘, gehörte bis zur Zerstörung im November 1938 während der Darmstädter Novemberpogrome zu den bedeutenden Wahrzeichen unserer Stadt“, erklärt der Vorsitzende des Fördervereins Liberale Synagoge, Martin Frenzel.

Zum 140. Geburtstag am Dienstag 23. Februar, 14.30 Uhr, wird der Förderverein Liberale Synagoge gleich in zweifacher Weise an die Geschichte des verschwundenen, heute vergessenen Gotteshauses an der Friedrich-/Fuchsstr. erinnern: Zum einen wird es – wie jedes Jahr seit Gründung des Vereins im Januar 2011 – einen kostenlosen Spezial-Rundgang „140 Jahre Liberale Synagoge Darmstadt. Auf den Spuren des Jüdischen Darmstadts und eines NS-Verbrechens“ in der Gedenkstätte Liberale Synagoge Klinikumsgelände geben.

Am gleichen Tag wird es abends um 19.30 Uhr einen Bildvortrag des Fördervereins Liberale Synagoge im Rüdiger Breuer-Saal der Jüdischen Gemeinde (Wilhelm-Glässing-Str.) geben: Dort erinnert der Historiker und Buchautor Martin Frenzel an das Gotteshaus. Titel des Vortrags: „Eine Zierde unserer Stadt. 140 Jahre Liberale Synagoge (1876 – 1938 – 2003)“. Der Vortrag schlägt einen Bogen von der Einweihung vor 140 Jahren 1876 durch den Großherzoglichen Rabbiner Dr. Julius Landsberger über die Schändung und Zerstörung des Sakralbaus während der NS-Novemberpogrome 1938 bis zur scheinbar wundersamen Wiederkehr der Fragmente des Gotteshauses im Oktober 2003, vor dreizehn Jahren.

Seit dem 9. November 2009 befindet sich auf dem Klinikumsgelände ein bundesweit einzigartiger Erinnerungsort. „Wir wollen mit diesen beiden Jubiläums-Veranstaltungen zum Auftakt einen Beitrag gegen das Vergessen leisten, getreu dem Motto unseres Fördervereins „Zukunft braucht Erinnerung“, so Frenzel weiter. Alle Besucherinnen und Besucher können im Übrigen am Abend das Modell der Liberalen Synagoge von Christian Häussler in der Jüdischen Gemeinde besichtigen.

Zudem plant der Förderverein Liberale Synagoge für 2016, vier bis fünf ausgewählte Darmstädter Schulen zu kontaktieren (geplant sind u.a. das Ludwig-Georgs-Gymnasium, Bernhard Adelung-Schule, Justus-Liebig-Schule, Georg Büchner-Schule) , um dort vor Schülerinnen und Schülern den halbstündigen, sehenswerten Dokumentarfilm des Darmstädter Filmemachers Florian Steinwandter-Dierks, „Wenn Steine aus der Mauer schreien: Die Liberale Synagoge“ zu zeigen. Anschließend solle es jeweils ein Zeitzeugengespräch und Gelegenheit für Fragen und Diskussion geben. Der Film war 2013 mit maßgeblicher Unterstützung (Recherche und historische Beratung) durch den Förderverein Liberale Synagoge entstanden.

„Es ist wichtig, dass gerade junge Leute für eine geschichtsbewusste Haltung sensibilisiert werden“, so die stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Liberale Synagoge, Barbara Ludwig. „Gerade in einer Zeit, in der immer weniger Zeitzeugen noch leben, sind neue Formen der aktiven Erinnerungskultur dringend nötig“, so Ludwig weiter. Man wolle Schulen ausdrücklich ermuntern, mit dem FLS Kontakt aufzunehmen. Das Angebot sei kostenlos und werde 2017 fortgeführt. „Wir hoffen auf positive Resonanz.“

Im Laufe des Frühjahrs/Frühsommers 2016 sei zudem eine weitere Veranstaltung des Fördervereins Liberale Synagoge in der Jüdischen Gemeinde im Zeichen des 140jährigen Liberale Synagoge-Jubiläums geplant.

Karl Heß
Das andere zentrale Projekt ist die 2014 vom Förderverein Liberale Synagoge gestartete Kampagne „Darmstadt braucht einen Karl Heß-Platz vorm Merck-Stadion am Böllenfalltor November 2016!“ Ziel sei es, den neuen Karl Heß Platz am Freitag, 4. November 2016, vorm Merck-Stadion am Böllenfalltor einzuweihen. Frenzel wörtlich: „Diese späte Ehrung und Rehabilitierung für den heute weithin vergessenen SV Darmstadt 98-Vorsitzenden Dr. Karl Heß ist mehr als überfällig – und ein Beitrag gegen das Vergessen. Wir haben diesen Karl Heß-Platz gefordert, da wussten viele in seinem eigenen Verein gar nicht mehr, wer dieser Mann war.“ Die Einweihung des Karl Heß-Platzes geschähe wenige Tage vorm 78. Jahrestag der Darmstädter Novemberpogrome 1938. Karl Heß (1900 – 1975), Deutscher jüdischen Glaubens, war Vorsitzender der Lilien von 1928 bis 1933, davor zudem stellv. Vorsitzender und reichsweit anerkannter Fußball- und Sport-Pionier. Auch als Rechtsanwalt genoss er hohes Renommee. Die Nazis jagten Heß jedoch 1933 nach der Machtergreifung in Hessen illegal wegen ihrer rassistischen Ideologie aus dem Amt, raubten ihm und seiner Familie die Existenzgrundlage (Berufsverbot als Rechtsanwalt), vertrieben ihn aus seiner Geburts- und Heimatstadt. Heß floh nach Frankreich – von dort 1939 dann ins Brasilien-Exil (Rio de Janeiro, später Porto Alegre). 1963 – 1969 kehrte Heß aus Heimweh für kurze Zeit nach Darmstadt zurück – trotz großer innerer Bedenken. In seiner letzten Lebensphase zog es ihn 1970 wieder in sein rettendes Exil Brasilien, wo er 1975 starb. Teile seiner Nachkommen leben heute in den USA. Frenzel dazu: „Es ist just dieser Tage gelungen, nach intensiver Recherche in Sachen Karl Heß – es haben sich etliche Zeitzeugen gemeldet – auch Kontakte jenseits des Atlantiks, nach Brasilien und vor allem in die USA zu den Nachkommen von Karl Heß knüpfen. Unsere erinnerungskulturelle Spurensuche in Sachen Karl Heß vervollständigt sich immer mehr, der lange Atem hat sich gelohnt“, sagte Martin Frenzel. Die in den USA lebende Karl Heß-Enkelin habe dem Förderverein Liberale Synagoge „ausdrücklich für die Idee und Initiative Ihres Vereins gedankt, meinen Großvater zu ehren.“ Die Enkelin wörtlich in ihrem Dankesbrief an den FLS: „Diese vom Förderverein Liberale Synagoge initiierte Ehrung für meinen Großvater Karl Heß bewegt mich sehr.“

Vorbild für die FLS-Initiative seien die Ehrungen Kurt Landauers beim FC Bayern München und von Eugen Salomon beim FSV Mainz 05. Letzterer wurde in Auschwitz von den Nazis ermordet, so Frenzel.

„Wir freuen uns sehr, dass der Vorstand des SV Darmstadt 98 unsere Idee und Initiative für einen Karl Hess-Platz mit Gedenktafel voll umfänglich unterstützt“, so FLS-Vorsitzender Martin Frenzel. Man lege Wert darauf, dass man die Idee eines Karl Heß-Platzes bereits lange VOR dem medial vielbeachteten Bundesliga-Aufstieg der Lilien geboren und öffentlich gemacht habe. Man werde nun gemeinsam mit dem SV Darmstadt 98 das weitere gemeinsame Vorgehen von März 2016 an beratschlagen, die Weichen für die Einweihung des Platzes stellen. Frenzel wörtlich: „Wir freuen uns auf eine gute, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Lilien!“ Wenn alles gut gehe, dann würden am 4. November 2016 auch mehrere Verwandte der Familie Heß bei der Platz-Einweihung zugegen sein. Nach wie vor sucht der Förderverein Liberale Synagoge Zeitzeugen, die etwas über Karl Heß erzählen können.

Termine
Fürs 1. Halbjahr 2016 sind seitens des Fördervereins Liberale Synagoge folgende Projekte geplant:

So wird es am Mittwoch, 27. April 2016 um 19.30 Uhr einen FLS-Kulturabend unter dem Motto „Darmstadt braucht einen Karl Heß-Platz“ geben – „Rabbiner Witz und Klezmer Musik“ mit der Schauspielerin Iris Stromberger, die selbst Mitglied des Fördervereins Liberale Synagoge ist, der Darmstädter Queen of Klezmer Irith Gabriely und dem Pianisten und Komponisten Peter Przystianiak. Am Donnerstag, 12. Mai 2016, spricht Martin Frenzel in einem Bildvortrag über „Wer war Karl Heß? Der vergessene SV Darmstadt 98-Vorsitzende. Von Darmstadt ins Brasilien-Exil“ (19.30 Uhr, Vortragssaal, Haus der Geschichte).

Bei allen Veranstaltungen werde man ab sofort Unterstützer-Unterschriften seitens der Bürgerinnen und Bürger „PRO Karl Heß-Platz“ einsammeln. „Wir wollen damit unserer Basis-Initiative von unten Nachdruck verleihen.“

Zudem plant der FLS fürs 2. Halbjahr 2016 im Herbst eine Veranstaltung über den die bedeutende, maßgebliche Rolle jüdischer Deutscher im deutschen Fußball. So sei etwa der Name des DFB die Idee eines Deutschen jüdischen Glaubens gewesen.

Auch in der FLS-Reihe „Vergessene Darmstädter Juden“ von Martin Frenzel werde man im November an verfolgte, vertriebene und vernichtete Darmstädter Persönlichkeiten erinnern – an Rabbiner wie Bruno Italiener (60.Todestag!), Vertreter aus dem Sport wie Karl Heß, Hans Juda und Howard Adler, aber auch an namhafte Darmstädter Rechtsanwälte, von denen Karl Heß ebenfalls einer war, ehe er von Nazis mit Berufsverbot belegt und aus der Heimat vertrieben wurde.
Von März 2016 wird es zudem jeden Monat einen Liberale Synagoge-Rundgang des Fördervereins Liberale Synagoge in der Gedenkstätte geben (Sommerpause Juli/August ausgenommen) – im Erinnerungs-Hauptmonat November sogar zwei Rundführungen. Titel aller FLS-Rundgänge: „Jüdisches Darmstadt. Auf den Spuren der Liberalen Synagoge, des SV Darmstadt 98-Vorsitzenden Karl Heß und eines NS-Verbrechens“.

Neu ins Programm aufgenommen hat der FLS einen neuen Rundgang „Auf den Spuren Heinrich Blumenthals und des Blumenthalviertels“. Ein Termin sei für den Frühherbst vorgesehen. Man wolle damit an den Gründer des Johannesviertels und Stadtplaner erinnern, der auch erster Gemein- devorsteher der Liberalen Gemeinde war – und das Heinrich Blumenthal-Rondell an der Nordseite des Johannesplatzes so bekannter machen. Dort steht auf Initiative des FLS seit dem 7. November 2015 eine Gedenktafel zu Ehren Heinrich Blumenthals.

Seit kurzem sei überdies der Doku-Film „Wenn Steine aus der Mauer schreien: Die Liberale Synagoge“ von Florian Steinwandter-Dierks in voller Länge auf der Homepage des Fördervereins Liberale Synagoge unter www.liberale-synagoge-darmstadt.de zu sehen.

Im Laufe des Jahres 2016 plane man auch, den „uns anvertrauten“ Nachlass der Julius Goldstein-Tochter Elsbeth Juda (1911 – 2014) zu sichten. Sodann werde man denselben an ein öffentliches Archiv übergeben. Der Förderverein Liberale Synagoge hatte 2013 die Präsentation der Foto-Werke der deutsch-englischen Meisterfotografin Elsbeth Juda initiiert und gemeinsam mit der Kunsthalle Darmstadt in die Tat umgesetzt.

Das Jahr 2016 steht auch im Zeichen des 75. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die damaligen Sowjetunion und der großflächigen Ausweitung des Vernichtungskriegs im Osten. Dazu werde man im Laufe des Jahres eine Veranstaltung anbieten. Auch der 70. Jahrestag des sogenannten Darmstädter Synagogenbrandprozesses von 1946 wird – wie der FLS ankündigt – Gegenstand einer Veranstaltung sein. 1946 waren einige der Täter, die die drei jüdischen Gotteshäuser Darmstadts 1938 zerstört hatten (darunter die Liberale Synagoge) vor Gericht gestellt worden.

FLS-Vorsitzender Martin Frenzel erinnerte daran, dass Darmstadt schon vor der NS-Zeit zu Zeiten der Weimarer Republik eine braune Hochburg gewesen sei, „die Stadt aus der Werner Best, Karl Wolff und Hans Stark kamen“. Alle Drei seien nach dem Krieg nahezu ungeschoren davon gekommen, hätten im Gegenteil Karriere gemacht.

Erst kürzlich sei man bei Recherchen darauf gestoßen, dass einer der schlimmsten SS-Massenmörder unter falschem Decknamen in Darmstadt untergetaucht sei, mit seiner Familie hier lebte, dort unerkannt im Alice-Hospital friedlich unter dem Namen „Bruno Albrecht“ am 19. September 1957 starb: Der SS-Gruppenführer Fritz Katzmann galt als einer der maßgeblichen, brutalsten Massenmörder des SS-Staats in Polen während des Holocausts. Katzmann galt bereits beim Überfall auf Polen 1939 als einer der „radikalsten sog. Selbstschutzführer“ im von den Deutschen besetzten Polen. Die Judenvernichtung in Galizien geht maßgeblich auf sein Konto. Der willige NS-Vollstrecker Katzmann leitete auch die berüchtigte „Aktion Reinhardt“ der SS von 1942/43: Zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 ermordete die SS im Zuge dessen über zwei Millionen Juden sowie rund 50.000 Roma aus den fünf Distrikten des Generalgouvernements (Warschau, Lublin, Radom, Krakau und Galizien) in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Katzmann (1906-1957) und seine Häscher legten auch ein Netz von Lagern mit Zwangsarbeitern des NS-Regimes in Ostgalizien ein, u.a. Janowska in Lemberg. 1944 stieg der SS-Täter Katzmann zum Generalleutnant der Waffen-SS auf, im Januar 1945 löste er brutal-menschenverachtend das Nazi-Todeslager Strutthof auf, bei der es ebenfalls zu Massenmord-Aktionen kam.

„Dass ein so hochrangiger, brutaler SS-Täter ausgerechnet in der ehedem braunen Hochburg Darmstadt auch zehn Jahre später in der Adenauer-Zeit einfach untertauchen konnte, zeigt der Atmosphäre jener Zeit: Die braunen Seilschaften, von den Fritz Bauer ein Lied singen konnte, existierten noch, man deckte und half einander, die eigene Verbrechen zu vertuschen, das Schweige- und Strafvereitelungskartell der alten Kameraden funktionierte“, so der Tenor beim FLS. Der Filmtitel jener Zeit „Die Mörder sind unter uns“ bekomme so einen fahlen Beigeschmack für Darmstadt. Kein Wunder, dass ein Judenretter wie Karl Plagge in jener Zeit lieber schwieg.

Umso besorgter sei man beim Förderverein Liberale Synagoge über das rasante Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland und Europa. „Das Engagement gegen Antisemitismus, für ein weltoffen-liberales, geschichtsbewusstes Darmstadt ist heute aktueller denn je“, so Martin Frenzel. Und Barbara Ludwig ergänzt: „Wir sind entsetzt über den starken Anstieg rechtsextremer Gewalttaten, die 2015 einen neuen Höhepunkt erreicht haben – und wir sehen das Treiben rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien als akute Gefahr für unsere Demokratie. Wenn über zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler rechtsextrem wählen, auf autoritäre Brandstifter hereinfallen, dann ist dies ein Alarmsignal für alle Demokratinnen und Demokraten, den Anfängen zu wehren, ehe es zu spät ist.“ Deswegen müsse Erinnerungsarbeit ebenso eine dauernde Aufgabe bleiben wie das Engagement für eine empathische Demokratie, für BürgerInnen- und Menschenrechte. Maßstab fürs erinnerungskulturelle Engagement des FLS bleibe der Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der Förderverein Liberale Synagoge selbst begeht ebenfalls ein kleines Jubiläum: So feiert der FLS 2016 sein fünfjähriges Bestehen, gegründet am 25.Januar 2011 auf der Mathildenhöhe. „Wir wollen bis zum Jahresende 2016 die magische Zahl des 100. Mitglieds erreicht haben, momentan liegenwir bei 75“, hofft Martin Frenzel.