(PM Technische Universität Darmstadt) Das vom Präsidium der TU Darmstadt im 2009 beauftragte Forschungsprojekt „TH Darmstadt und Nationalsozialismus“ ist erfolgreich abgeschlossen. Ein Ergebnis der bewusst bis 1960 reichenden umfangreichen und mit vielen Quellen aufwartenden Aufarbeitung: Insbesondere Ingenieure und Naturwissenschaftler bot das NS-Regime im Interesse von Aufrüstung und Krieg große Entfaltungsmöglichkeiten. Wissenschaftler stellten sich freiwillig zur Verfügung und verknüpften ihre Haltung mit eigenen Zielen. Ein Kern von rund einem Dutzend Professoren bestimmte die Geschicke der TH zwischen 1930 und 1960.
Zwei Doktorandinnen untersuchten im Rahmen ihrer Dissertationen über mehrere Jahre die Geschichte der TH Darmstadt zwischen 1930 und 1960. Das Projekt ging bewusst über die Zäsur von 1945 hinaus und widmete sich auch der Nachkriegszeit und dem Erbe des Nationalsozialismus. Die Leitung des Forschungsprojekts hatte Professor Christof Dipper vom Institut für Geschichte. Begleitet wurde das Projekt außerdem von einem wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus drei namhaften externen Wissenschaftshistorikern: Prof. Dr. Helmut Maier (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Wolfgang Schieder (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Margit Szöllösi-Janze (Ludwigs-Maximilians-Universität München).
Neben Zeitzeugengesprächen waren die Quellen des Universitätsarchivs der TU Darmstadt, aber auch zahlreiche andere Archive im In- und Ausland wichtige Anlaufstellen für die Historikerinnen. Im Verlauf des Projekts tauschten sich die beiden Promovendinnen im Rahmen zahlreicher Vorträge und eines vom Projekt ausgerichteten Doktorandenworkshops auch mit Historikergruppen anderer Universitäten aus.
Melanie Hanel erforschte in ihrer Studie die TH Darmstadt im Nationalsozialismus. Im Zentrum ihrer Forschung steht die Hochschulpolitik – die Entlassung von politisch und „rassisch“ missliebigen Wissenschaftlern, die Berufungspolitik und das politische Engagement der Professoren im Nationalsozialismus sowie die „kriegswichtige“ Forschung für das NS-Regime, an der sich ein Großteil der Professoren beteiligte.
Isabel Schmidt untersuchte den Wiederaufbau der TH in der Nachkriegszeit, die Entnazifizierung des Lehrkörpers, das Verhalten gegenüber den aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung Entlassenen, Berufungen sowie den Umgang der TH Darmstadt mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus.
Ausgehend vom aktuellen Stand der Forschung gehen die Historikerinnen davon aus, dass der Nationalsozialismus keinesfalls wissenschaftsfeindlich war, sondern gerade Ingenieuren und Naturwissenschaftlern im Interesse von Aufrüstung und Krieg ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten bot. Um die Rolle der Wissenschaftler im Nationalsozialismus zu beschreiben, greift das Projekt auf den Begriff der Selbstmobilisierung zurück, der hervorhebt, dass sich die Wissenschaftler dem Regime freiwillig zur Verfügung stellten und dabei zugleich ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgten.
Eine besondere Forschungsleistung des Projekts ist das Offenlegen langfristiger Entwicklungslinien, Haltungen und Verarbeitungsstrategien der Hochschulführung in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus. Beide Arbeiten zeigen durch akteurszentrierte Fragestellungen von der Forschung bislang vernachlässigte Handlungsmöglichkeiten einer Technischen Hochschule während und nach 1945 auf. Im Grunde war es eine Gruppe von ca. zehn Professoren, die die Geschicke der TH zwischen 1930 und 1960 lenkten.
Die TH Darmstadt während des Nationalsozialismus
Melanie Hanel hat sich in ihrer Dissertation der Geschichte der TH Darmstadt im Nationalsozialismus gewidmet. Ihre Studie erschien 2014 unter dem Titel „Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus“ bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt.
Der Schwerpunkt ihrer Untersuchung liegt auf der Hochschulpolitik und der „kriegswichtigen“ Forschung der Darmstädter Professoren für das NS-Regime. Im Zentrum der Dissertation stand zum einen die Frage, wie die Hochschule die hochschulpolitischen Vorgaben des NS-Regimes umsetzte, welche Handlungsspielräume hier bestanden und wie sie genutzt wurden. Zum anderen untersuchte sie, woran die Professoren forschten, welche Forschungsvorhaben im Nationalsozialismus finanziell gefördert wurden und welche Institute davon personell und räumlich profitierten.
Im Rahmen der Aufarbeitung der Entlassungen nach dem sog. Berufsbeamtengesetz vom April 1933 kann Hanel nachweisen, dass die Gruppe der aus „rassischen“ und politischen Gründen Vertriebenen einen relativ geringen Anteil ausmachte, während die Forschung bislang annahm, dass nur diese beiden Personengruppen betroffen waren. Ob sich das an den Universitäten ebenso verhielt, wird man erst sagen können, wenn man dort ähnlich gründlich dieser Frage nachgeht. An der Technischen Hochschule Darmstadt wurde jedenfalls eine ganze Reihe von Personen unter Anwendung der nationalsozialsozialistischen Gesetze entlassen, die offenbar vonseiten der Leitung als fachlich ungeeignet oder einfach missliebig angesehen wurden. Verschiedene Akteure an der Hochschule nutzten hier ihre Handlungsspielräume, um hochschulinterne Spannungen in ihrem Sinn zu lösen.
Wie groß die Handlungsspielräume der TH Darmstadt in hochschulpolitischen Belangen waren, illustriert Hanel darüber hinaus an den 37 Berufungsverfahren. Unter anderem durch ein geschlossenes Auftreten der Hochschule gegenüber den politischen Instanzen konnte sie ihr traditionelles Selbstergänzungsrecht nahezu ungeschmälert erhalten. Der Technischen Hochschule gelang es weiterhin, ihre Wunschkandidaten zu berufen, die fachliche Qualifikation blieb für die Übernahme eines Lehrstuhls ausschlaggebend.
Hanel zeigt in ihrer Untersuchung außerdem, dass ein Großteil der Darmstädter Professoren im Nationalsozialismus keine Probleme hatte, seine Forschungen durch den Reichsforschungsrat als „kriegs- und staatswichtig“ anerkennen zu lassen, weshalb der Anteil der Rüstungsforschung schon bald überwog, was sich insbesondere an der großen Beteiligung am „Vorhaben Peenemünde“ oder in der Gründung von drei Darmstädter Vierjahresplaninstituten zeigt. Die Technische Hochschule profitierte davon in mehrfacher Hinsicht und nahm den Charakter einer reinen Forschungsinstitution an. Die Lehrstühle konnten während des Zweiten Weltkriegs einen enormen Zuwachs an finanziellen und personellen Ressourcen verbuchen, der TH als ganzer gelang noch während des Kriegs die Errichtung mehrerer modern ausgestatteter Gebäude. Studenten gab es kaum noch.
Die TH Darmstadt in der Nachkriegszeit
Isabel Schmidt hat ihre Dissertation im April 2014 eingereicht und im Sommer desselben Jahres erfolgreich verteidigt. Ihr Buch „Nach dem Nationalsozialismus. Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement (1945-1960)“ erscheint im Frühjahr 2015 ebenfalls bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt. Ausgehend von den Ergebnissen Hanels beschäftigt sich Schmidt mit der Geschichte der TH Darmstadt in den Jahren 1945 bis 1960. Die Arbeit widmet sich im Einzelnen dem Wiederaufbau, der „Umgestaltung der Ressourcenkonstellation“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Entnazifizierung, der Wiedergutmachung, der Berufungspolitik, der Hochschulreform und der Rolle der Studierenden. Der Schwerpunkt liegt auf der Personalpolitik der TH. Im Zentrum ihrer Studie stehen die Fragen, wie die TH Darmstadt nach 1945 als Akteur auftrat und welche Aussagen über ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit gemacht werden können.
Wichtige Richtungsentscheidungen wurden noch vor der Wiedereröffnung der Hochschule im Januar 1946 von einem sich selbst konstituierenden Vertrauensausschuss gefällt. Wie Schmidt herausfand, kümmerte sich die amerikanische Militärregierung nur am Rande um die Ereignisse an der Hochschule, sodass die Darmstädter Professoren auch jetzt noch erhebliche Handlungsspielräume besaßen. Zwar war die Zeit nach 1945 alles andere als einfach, jedoch kommt Schmidt zu dem Ergebnis, dass sich der TH Darmstadt mehr Chancen als Grenzen boten. Eine bedeutende Rolle beim Umgang der Hochschulleitung mit dem personellen und materiellen Erbe des Nationalsozialismus weist Schmidt diskursiven Strategien der TH Darmstadt zu. Man gab sich nun als „Anti-Nazi-Hochschule“ aus und sorgte durch klug gewählte Strategien, dass die Entnazifizierungs-, Wiedergutmachungs- und Berufungsverfahren in ihrem Sinne verliefen. Dass die TH Darmstadt massiv und äußerst gewinnträchtig in Kriegsforschung während des Nationalsozialismus involviert war, war rasch vergessen. Dazu passt, dass sich TH Darmstadt gegen eine umfassende Wiedereingliederung von während des NS-Regimes vertriebenen Hochschulangehörigen sperrte, sodass letztlich lediglich drei Personen an die TH Darmstadt zurückkehrten.
Die großen personalpolitischen Konflikte − selbst zur Zeit des Nationalsozialismus geriet die TH Darmstadt längst nicht so häufig in Konflikt mit der Landesregierung wie nach 1945 – hingen mit der hessischen Hochschulpolitik zusammen. Als einziges Land strich nämlich Hessen die hergebrachten Sonderregeln für die Beschäftigung von Professoren und erschwerte damit die Berufung vor allem hochqualifizierter Kandidaten aus der Industrie. Es war nicht zuletzt dem besonders scharf ausgeprägten „Korpsgeist“ der Darmstädter Professoren zuzuschreiben, dass die Landesregierung schließlich nachgab. Bei den dann erfolgten Berufungen widmete die TH Darmstadt Fragen der politischen Belastung durch Mitgliedschaft in NS-Organisationen, die in den Entnazifizierungsfragen wichtig waren, nur geringe Aufmerksamkeit; entscheidend waren fachliche Exzellenz und Kollegialität. Die Studie Schmidts weist das jüngst auch in Verwaltung und Politik bemerkte Phänomen nach, dass die TH in den 1950er Jahren „brauner“ war als in den 1930er Jahren. Schon das erklärt, weshalb der Blick auf die eigene Vergangenheit lange Zeit ebenso lückenhaft wie geschönt war. Bis dies bemerkt und korrigiert wurde, mussten Jahrzehnte vergehen.