18. Juli 1914 – Nibelungentreue mangels besserer Verbündeter?

Gottlieb von Jagow schreibt am 18. Juli 1914 an den deutschen Botschafter Max von Lichnowsky in London einen langen Brief. Tenor: Man habe gerade keinen anderen Verbündeten mehr als die sieche („das sich immer mehr zersetzende Staatengebilde“) Donaumonarchie. Österreich-Ungarn müsse mit Blick auf den russischen Einfluss auf den Balkan aber jetzt unterstützt werden. Und dann kommen die strategischen Überlegungen zur wachsenden militärischen Stärke Russlands, das jetzt noch keinen Krieg brauchen könne, sowie dass die Entente auch keinen Krieg wolle.

Zu einem vollen Erfolg bietenden Verhältnis zu England sind wir leider noch immer nicht gekommen, konnten nach allem, was vorausgegangen, auch gar nicht dazu kommen – wenn wir überhaupt je dazu kommen können. (…)

Österreich, welches durch seine mangelnde Aktionskraft mehr und mehr Einbuße an seinem Ansehen erlitten hat, zählt schon jetzt kaum mehr als vollwertige Großmacht. Die Balkankrise hat seine Stellung noch geschwächt. Durch dieses Zurückgehen der österreichischen Machtstellung ist auch unsere Bündnisgruppe entschieden geschwächt worden. (…)

Dann würde der Prozeß seines Dahinsiechens und inneren Zerfalls noch beschleunigt. Seine Stellung im Balkan wäre für immer dahin. Daß eine absolute Stabilisierung der russischen Hegemonie im Balkan indirekt auch für uns nicht admissibel ist, werden Sie mir wohl zugeben. Österreichs Erhaltung, und zwar eines möglichst starken Österreichs, ist für uns aus inneren und
äußeren Gründen eine Notwendigkeit. Daß es sich nicht ewig wird erhalten lassen, will ich gern zugeben. Aber inzwischen lassen sich vielleicht Kombinationen finden. (…)

Je entschlossener sich Österreich zeigt, je energischer wir es stützen, um so eher wird Rußland still bleiben. Einiges Gepolter in Petersburg wird zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Rußland jetzt nicht schlagfertig. Frankreich und England werden jetzt auch den Krieg nicht wünschen. In einigen Jahren wird Rußland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zahl seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. Unsere Gruppe wird inzwischen immer schwächer. In Rußland weiß man es wohl, und will deshalb für einige Jahre absolut noch Ruhe. (…)

Ich hoffe und glaube auch heute noch, daß der Konflikt sich lokalisieren läßt. Englands Haltung wird dabei von großer Bedeutung sein. Ich bin vollständig überzeugt, daß die öffentliche Meinung dort sich nicht für Österreichs Vorgehen begeistern wird, und erkenne alle ihre Argumente in dieser Hinsicht als richtig an. Aber man muß tun, was irgend möglich ist, daß sie sich nicht zu sehr für Serbien begeistert, denn von Sympathie und Antipathie bis zur Entfachung eines Weltbrandes ist doch noch ein weiter Weg (…)