9.9.1914 – Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg benennt Kriegsziele

In einem sogenannten Septemberprogramm hat Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg für seinen Stellvertreter in Berlin, Staatssekretär Clemens von Delbrück, Kriegsziele formuliert; eine „vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß“.

Interessant ist (mit Blick auf die EU von heute) ein Passus zu einer wirtschaftlichen Union, „mitteleuropäischer Wirtschaftsverband“ genannt. Mit Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich -Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen, Luxemburg würde deutsches Bundesland. Und die Sache natürlich unter deutscher Vorherrschaft. Da könnte man mit dem Wissen von heute in Griechenland oder Italien doch auf Ideen kommen.

Frankreich
Von den militärischen Stellen zu beurteilen, ob die Abtretung von Belfort, des Westabhangs der Vogesen, die Schleifung der Festungen und die Abtretung des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne zu fordern ist.

In jedem Falle abzutreten, weil für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig, das Erzbecken von Briey. Ferner eine in Raten zahlbare Kriegsentschädigung; sie muß so hoch sein, daß Frankreich nicht imstande ist, in den nächsten 15-20 Jahren erhebliche Mittel für Rüstungen aufzuwenden.
Des weiteren: Ein Handelsvertrag, der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten. Dieser Handelsvertrag muß uns finanzielle und industrielle Bewegungsfreiheit in Frankreich schaffen – so, daß deutsche Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden können.

Belgien
Angliederung von Lüttich und Verviers an Preußen, eines Grenzstriches der Provinz Luxemburg an Luxemburg.
Zweifelhaft bleibt, ob Antwerpen mit einer Verbindung nach Lüttich gleichfalls zu annektieren ist. Gleichviel, jedenfalls muß ganz Belgien, wenn es auch als Staat äußerlich bestehen bleibt, zu einem Vasallenstaat herabsinken, in etwa militärisch wichtigen Hafenplätzen ein Besatzungsrecht zugestehen, seine Küste militärisch zur Verfügung stellen, wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden. Bei einer solchen Lösung, die die Vorteile der Annexion, nicht aber ihre innerpolitisch nicht zu beseitigenden Nachteile hat, kann franz. Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne, mit großenteils flämischer Bevölkerung diesem veränderten Belgien ohne Gefahr angegliedert werden. Den militärischen Wert dieser Position England gegenüber werden die zuständigen Stellen zu beurteilen haben.

Luxemburg wird deutscher Bundesstaat und erhält einen Streifen aus der jetzt belgischen Provinz Luxemburg und eventuell die Ecke von Longwy.

Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.

Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben ist, desgleichen die Rußland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später geprüft.

Als Grundlage der mit Frankreich und Belgien zu treffenden wirtschaftlichen Abmachungen ist eine kurze provisorische, für einen eventuellen Präliminarfrieden geeignete Formel zu finden.

Holland
Es wird zu erwägen sein, durch welche Mittel und Maßnahmen Holland in ein engeres Verhältnis zu dem Deutschen Reiche gebracht werden kann.
Dies engere Verhältnis müßte bei der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein, an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern, ihnen auch keine veränderten militärischen Pflichten bringen, Holland also äußerlich unabhängig belassen, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringen. Vielleicht ein die Kolonien einschließendes Schutz- und Trutzbündnis, jedenfalls enger Zollanschluß, eventuell die Abtretung von Antwerpen an Holland gegen das Zugeständnis eines deutschen Besatzungsrechtes für das befestigte Antwerpen wie für die Scheldemündung wäre zu erwägen.

Historiker bewerten das in den 50er Jahren aufgetauchte Dokument nicht einheitlich. Die einen sehen darin eine Momentaufnahme, eine Idee, entstanden unter dem Eindruck der ersten Siege; andere sehen darin einen entlarvenden Plan des Reiches. Offziell oder verkündet wurde das Programm nicht.

11. Juli 1914 – Deutsche werden ungeduldig, Mord-Ermittler treffen sich

Deutschland will den Konflikt lokal zwischen Serbien und Österreich-Ungarn halten, was aus seiner Sicht aber nur geht, wenn die k.u.k-Monarchie schnell handelt. Am 11. Juli ärgert sich der deutsche Kanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, wie sein Sekretär und Berater Kurt Riezler notierte:

Anscheinend brauchen [die Österreicher] furchtbar lange, um zu mobilisieren, sagt Hötzendorf. Das ist sehr gefährlich. Ein schnelles fait accompli und dann freundlich gegen die Entente – dann kann der Choc [sic!] ausgehalten werden.

Die österreich-ungarischen Ermittler, Sektionsrat Friedrich Ritter von Wiesner, ein ehemaliger Richter, und Gerichtssekretär Leo Pfeffer treffen sich in Sarajevo. Pfeffer hatte die Attentäter vom 28. Juni verhört.

nachrichten.at: Pfeffer & Wiesner: Die Ermittler von Sarajevo Der Lehrer Danilo Ilic hat ausgepackt – und vage Anhaltspunkte für eine Beteiligung Belgrads geliefert. (…) Dem eigentlichen Drahtzieher des Attentats, dem serbischen Geheimdienstchef Dragutin Dimitrijevic – in Serbien unter dem Namen Apis bekannt und gefürchtet – kommen weder Pfeffer noch Wiesner auf die Spur.

Und das mit Ilic war eher Zufall, denn er war nach dem Attentat einfach so festgenommen worden, er war keiner der Gruppe, die mit Mordplänen angereist war

Süddeutsche.de: Ermittler im heikelsten Mordfall des jungen Jahrhunderts Als Ilić dem Richter gegenübersaß, wurde er nervös – und packte aus. In diesem Moment wurde Pfeffer bewusst, dass in den Mord auch Personen in Belgrad verwickelt waren. „Hätte Ilić kühlen Kopf bewahrt und beim Verhör irgendeine Geschichte aufgetischt, er wäre vermutlich binnen weniger Tage wieder entlassen worden“, schreibt Remak. Doch Ilić habe Angst gehabt und geredet.

In Berlin lehnt es Außenstaatssekretär Gottlieb von Jagow ab, Österreich-Ungarn zu erklären, was es von Serbien fordern soll:

Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914: Zur Formulierung der Forderungen an Serbien können wir keine Stellung nehmen, da dies Österreichs Sache ist. Uns es nur erwünscht, daß Wien genügend Material sammelt, um zu beweisen, daß in Serbien eine großserbische Agitation besteht, welche Monarchie gefährdet, damit öffentliche Meinung Europas soweit als möglich vom guten Recht Österreichs überzeugt wird. Dies Material wäre am besten — nicht getrennt, sondern einheitlich — kurz vor Stellung der Forderungen bzw. des Ultimatums an Serbien zu publizieren.

Parallel dazu suchen Deutsche und Österreicher Verbündete.

Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914: Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Botschafter in Rom Wir haben es der österreichisch-ungarischen Regierung überlassen, die ihr geeignet scheinenden Schritte zu tun und ihr erforderlichenfalls unsern Beistand im Sinne des Bündnisses zugesagt. Wir haben uns ferner damit einverstanden erklärt, daß Österreich-Ungarn in Verhandlungen mit Bulgarien wegen dessen Beitritt zu unserer Bündniskombination tritt.

König von Rumänien, durch uns über diese Absicht informiert, hat sich reserviert, aber nicht ablehnend verhalten.

Österreich-Ungarn Ultimatumpläne sickern durch, wie Christopher Clark schildert. Gottlieb von Jagow informiert am 11. Juli den deutschen Botschafter in Rom über Österreichs Pläne. Der deutsche Botschafter in Rom, Hans von Flotow, erzählt das aber dem italienischen Außenminister San Giuliano, der das seinem Ministerium und das reicht die Information an die Botschaften in St. Petersburg, Bukarest und Wien weiter.

Der 11. Juli ist ein Tag, der auch ziemlich direkt mit mit Dragutin_„Apis“ Dimitrijević zu tun hat. Denn der Tag ist der Geburtstags des serbischen Königs Peter (Karađorđević). Der aber nur im Amt ist, weil Apis 1903 eine Verschwörung (Schwarze Hand) anführte, in der König Alexander (Obrenović) ermordet wurde.

Über das Hin und Her beim serbischen Fürstenamt berichtet sehr schön das Blog ersterweltkriegheute.de: (Un-)Happy Birthday, Peter I.

Kaiser Wilhelm II., auf Urlaub an der norwegischen Küste, überlegt mit Blick auf die Krise, ob er dem König zum Geburtstags gratulieren soll.

SpOn: Urlaub vorm Weltenbrand Ungeduldig verfolgte Wilhelm II. das Vorgehen der Donaumonarchie gegenüber Serbien. Gleichzeitig bemühte sich der Kaiser, Belgrad gegenüber den Schein zu wahren: Am 11. Juli zerbrach er sich tatsächlich den Kopf darüber, ob es sich zieme, angesichts der Krise das alljährliche Geburtstagstelegramm an den serbischen König Peter I. abzuschicken.