Haltungs- und Fallschirmjournalismus

Ich packe mal zwei Dinge in einen Blogeintrag, weil sie bei der Causa Relotius zusammenfallen.

Ersten wundere ich mich, dass die Leute, die sich beschweren, dass die Presse „festgelegt“ sei, selbst festgelegt sind. Zwischen 2012 und 2016 hat der inzwischen berüchtigte Reporter Claas Relotius für die Schweizer „Weltwoche“ 28 Texte geschrieben, 18 für „Cicero“, sechs für die „Welt“ und drei für die FAS. Das sind 55 Artikel für nicht-linke Blätter. Aber vor allem Rechte reden jetzt von einem „linke Haltungsjournalismus“, weil sie nur 60 Spiegel-Artikel sehen wollen. (Wikipedialemma zu Claas Relotius Übersicht seiner Artikel)

Und was mir zweitens auffällt: Ich als Lokalreporter tue mich ja schon schwer, wenn ich in einer Nachbarkommune einspringen soll. Weil ich mich da null auskenne und in absehbarer Zeit auch nicht wiederkommen werde. Jetzt spreche ich ja die Landessprache und kenne die gesellschaftliche Großwetterlage. Aber wie ist das erst in Ländern in denen man auf Dolmetscher, Stringer und Fixer angewiesen ist? Die Praxis scheint zu zeigen, dass das funktioniert, aber wer sagt mir, dass die Dolmetscher korrekt übersetzen und die Fixer mir die richtigen Leute vermitteln? Eigentlich sollte man wenigstens Reporterinnen und Reporter hinschicken, die die jeweilige Landessprache können. Und nicht Starreporter mit dem Fallschirm abspringen lassen, die sich dann wie im 19. Jahrhundert eine Expedition mit einheimischen Wasserträgern zusammenkaufen.

Von Braunshardt nach Hamburg

Der Weihnachtsbaum auf dem Braunshardter Weihnachtsmarkt vorm Schloss.

Ein von LED-Strahlern hellviolett getauchtes Rokokoschloss Braunshardt und ein dunkelgrauer wolkenverhangener Himmel ließen den Weihnachtsmarkt im Schlosspark dieses Jahr etwas unwirklich beginnen. Zufällig in einer Regenpause lag die offizielle Eröffnung, in der das Bläserensemble der SG Weiterstadt aufspielte. Und der immer noch jugendlich wirkende, 50-jährige Weiterstädter Bürgermeister und Sozialdemokrat Ralf Möller freute sich, dass der Weihnachtsmarkt 78 Stände habe als der im benachbarten, sechsmal größeren Darmstadt mit 64.

Ja, auch so könnte man einen Artikel über einen Weihnachtsmarkt beginnen. Und wenn ich noch etwas übe, dann texte ich so, wie man ansonsten ein Gemälde malt – andere nennen das #schreibenwiederspiegel. So, und jetzt bin ich beim Thema: Der Reporter Claas Relotius, der beim Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ war. War, denn:

Welt.de: Der „Spiegel“ und sein Fälscher

Der aber noch bis zuletzt einen Presse-Preis bekam. Während der Lokalreporter bei immer wieder einsetzenden Nieselregen durch die Kälte und die Allee des Schlossparks schritt, um den Tand von Besonderheiten zwischen Ständen mit Glasperlen, mediterraner Salami, Vogelhäuschen aus der Justizvollzugsanstalt und Wildgulasch beim Mega-Foodtruck zu trennen, wurden in Berlin in heimelig warmen Räumlichkeiten die Deutschen Reporterpreise 2018 vergeben.

Nee, stimmt ja gar nicht, die Preise wurden am 3. Dezember vergeben, der Adventmarkt war vom 7. bis 9. Dezember und wie das in Berlin war weiß ich gar nicht. Aber so zu schreiben kann schon Laune machen. So wie das Blog ja auch etwas dröhnend „Zeitsturmradler“ heißt (wie ja auch mal eine fb-Freudin richtig anmerkte).

Ich las jedenfalls wie viele am 19. Dezember die Offenlegung bei Spiegel-Online. Und fragte mich dann: Warum? Da fährt ein Reporter in die Welt hinaus, hat relativ viel Zeit vor Ort (zum Beispiel drei Wochen in Fergus Falls) und fängt dann an Sachen dazuzuerfinden? Weil es besser klingt, weil es dann schöner wird? Mit seiner Berufserfahrung hätte er doch wissen müssen, worauf er achten muss, was er nachher beim Schreiben braucht, um nicht ins Dichten und Erfinden kommen zu müssen.

Mein Konstrukt mit Kälte und Wärme oben funktioniert doch auch noch, wenn ich daraus „vier Tage bevor der Lokalreporter versuchte Tand von Besonderen zu trennen etc. pp.“ mache. Ok, ich muss halt rausfinden, wie das in Berlin lief.

Echo online: Erstmals hat die Stadt Weiterstadt den Weihnachtsmarkt im Braunshardter Schlosspark organisiert.

Das andere bei der Sache ist aber jetzt die Welle, die da die „Lügenpresse“-Rufer machen. Keiner von denen hat es Weiterlesen