Von Braunshardt nach Hamburg

Der Weihnachtsbaum auf dem Braunshardter Weihnachtsmarkt vorm Schloss.

Ein von LED-Strahlern hellviolett getauchtes Rokokoschloss Braunshardt und ein dunkelgrauer wolkenverhangener Himmel ließen den Weihnachtsmarkt im Schlosspark dieses Jahr etwas unwirklich beginnen. Zufällig in einer Regenpause lag die offizielle Eröffnung, in der das Bläserensemble der SG Weiterstadt aufspielte. Und der immer noch jugendlich wirkende, 50-jährige Weiterstädter Bürgermeister und Sozialdemokrat Ralf Möller freute sich, dass der Weihnachtsmarkt 78 Stände habe als der im benachbarten, sechsmal größeren Darmstadt mit 64.

Ja, auch so könnte man einen Artikel über einen Weihnachtsmarkt beginnen. Und wenn ich noch etwas übe, dann texte ich so, wie man ansonsten ein Gemälde malt – andere nennen das #schreibenwiederspiegel. So, und jetzt bin ich beim Thema: Der Reporter Claas Relotius, der beim Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ war. War, denn:

Welt.de: Der „Spiegel“ und sein Fälscher

Der aber noch bis zuletzt einen Presse-Preis bekam. Während der Lokalreporter bei immer wieder einsetzenden Nieselregen durch die Kälte und die Allee des Schlossparks schritt, um den Tand von Besonderheiten zwischen Ständen mit Glasperlen, mediterraner Salami, Vogelhäuschen aus der Justizvollzugsanstalt und Wildgulasch beim Mega-Foodtruck zu trennen, wurden in Berlin in heimelig warmen Räumlichkeiten die Deutschen Reporterpreise 2018 vergeben.

Nee, stimmt ja gar nicht, die Preise wurden am 3. Dezember vergeben, der Adventmarkt war vom 7. bis 9. Dezember und wie das in Berlin war weiß ich gar nicht. Aber so zu schreiben kann schon Laune machen. So wie das Blog ja auch etwas dröhnend „Zeitsturmradler“ heißt (wie ja auch mal eine fb-Freudin richtig anmerkte).

Ich las jedenfalls wie viele am 19. Dezember die Offenlegung bei Spiegel-Online. Und fragte mich dann: Warum? Da fährt ein Reporter in die Welt hinaus, hat relativ viel Zeit vor Ort (zum Beispiel drei Wochen in Fergus Falls) und fängt dann an Sachen dazuzuerfinden? Weil es besser klingt, weil es dann schöner wird? Mit seiner Berufserfahrung hätte er doch wissen müssen, worauf er achten muss, was er nachher beim Schreiben braucht, um nicht ins Dichten und Erfinden kommen zu müssen.

Mein Konstrukt mit Kälte und Wärme oben funktioniert doch auch noch, wenn ich daraus „vier Tage bevor der Lokalreporter versuchte Tand von Besonderen zu trennen etc. pp.“ mache. Ok, ich muss halt rausfinden, wie das in Berlin lief.

Echo online: Erstmals hat die Stadt Weiterstadt den Weihnachtsmarkt im Braunshardter Schlosspark organisiert.

Das andere bei der Sache ist aber jetzt die Welle, die da die „Lügenpresse“-Rufer machen. Keiner von denen hat es geschafft Claas Relotius‘ Reportagen als Realität mit einem Schuss Relotität zu entlarven. Keiner von denen, die jetzt rumdröhnen, sie hätten es beim Spiegel doch schon immer gewusst, hat einen Hauch recherchiert. Nein, der Spiegel hat sich selbst offenbart (mit einem Artikel, der genauso ein Gemälde ist und deswegen für mich stilistisch nicht passt. Aber das sehen ja andere auch so.)

Und der Artikel, den die „Lügenpresse“-Rufer jetzt ins Feld führen, ist der, der in seinem Kern aber stimmt. Weil Claas Relotius nur einer Polizeipressemitteilung über einen Flüchtling nachgegangen ist, der 1000 Euro gefunden und im Fundbüro abgegeben hat. Was eigentlich aus der Rubrik hervorgeht, in der der Artikel erschienen ist, sie heißt: „Eine Meldung und ihre Geschichte“. Aber das einzige Werkzeug der „Lügenpresse“-Schreier ist ein Hammer, weswegen für die alles wie ein Nagel aussieht.

Und noch so ein Punkt ist für mich die Relevanz. Das sind doch keine investigativen Stücke, die der süffig schreibende Kollege da abgeliefert hat. Die Panama-Papers, die Cum-Ex-Geschäfte, das Dieselgate, die AfD-Parteispenden aus der Schweiz, das sind doch relevantere Themen, die Journalisten aufgedeckt haben. Was interessiert mich in dem Zusammenhang der junge Syrer, der glaubt, dass sein Graffito den Bürgerkrieg ausgelöst hat? Das ist interessant, aber nicht wirklich wichtig. (Warum es dafür 2018 den Deutschen Reporterpreis für die beste Reportage gab, kann ich übrigens nicht nachvollziehen, denn die Geschichte war schon seit mindestens 2013 bekannt.)

Achse des Guten: Claas Relotius oder: Der Spiegel lässt die Hosen runter – (…) was Relotius angerichtet hatte, waren ja keine falschen News, sondern erfundene Schnulzen ohne konkreten Nachrichtenwert. Chefredakteure lieben Schnulzen, die an der Nahtstelle zwischen Journalismus und Literatur spielen.

Was mich ja erst wunderte war, wie Claas Relotius an der Spiegel-Dokumentation vorbekam. Die Mitarbeiter dort machen nichts anderes, als die Artikel der Reporter zu prüfen, ob das was da steht, auch stimmt. Das wird bei einer Schreibweise eines Namens losgehen. Und das ist mehr als nur kurz Drüberlesen, ob das auch alles plausibel ist.

Nun las ich aber auf Twitter, dass der Journalist Andrew Curry die Spiegel-Dokumentation für eher lasch zu halten scheint. Er beschreibt in einem längeren Strang, wie das bei US-Magazinen läuft. Da wird auch schonmal der Gesprächspartner nachträglich von den Faktencheckern angerufen.

Andrew Curry: Did a WIRED fact checker take my word for it that my source was smoking during our interview, as I described the scene? No, she worked through a 9 hour time difference to ask the source. She also double-checked the brand of cigarette.

Andrew Curry: For DerSPIEGEL to claim that no publication is safe from a dishonest journalist may be true. But it’s also clear that they didn’t try very hard — and if they had followed best practices standard at most major US mags they might have caught this a lot sooner.

Übrigens wird das mit Texten wie Gemälde für Weihnachtsmarktberichte wohl eher nichts. Im Lokalen hat man meistens nur um die 100 bis 130 Zeilen Platz. Und da ist kein Platz für wortgewaltige Gebilde, die sich durch den Artikel ziehen. Und zu kurz für irgendwelche Preise ist das auch.

Ach ja, am 7. Mai 2015, sprachen die Reporter Claas Relotius und Roland Schulz mit „Reportagen“-Chefredakteur Daniel Puntas Bernet zum Thema „Das Geheimnis des Erzählens“, das über eine Stunde lange Video ist auf YouTube. Manches klingt jetzt natürlich … äh … interesant. (Das Video ist inzwischen auf „privat“ gestellt.)